Glosse
STUTTGARTSPECIAL 5/2018
MORGENS HALB ACHT IN STUTTGART
Kabarettist Christoph Sonntag skizziert den Wanderer von Caspar David Friedrich
in der Schwaben-Version. Das Leben kann so einfach sein
Morgens um 7:30 Uhr steht der Stuttgarter auf dem Killesberg,
dem besten und teuersten Stadtteil des Metropölchens, auf und
trinkt seinen ersten Kaffee. Den Kaffee hat er im Fairtrade-
Laden gekauft und mischt ihn mit seiner aufgeschäumten veganen
Mandelmilch. Nicht etwa, weil er Veganer wäre, nein, Gott bewahre,
seine Leibspeise ist der Rostbraten in der Weinstube Muz im idyllischen
Remstal in Endersbach und der Gaisburger Marsch im Ketterer
am Stuttgarter Marktplatz. Er trinkt deshalb Mandelmilch, weil sie
gesünder als Milch sein soll und weil man ja nie wissen kann.
Dann schlägt er die Zeitung auf und liest die neuesten Nachrichten:
„Feinstaubalarm am Neckartor“. Puh, denkt er, liegt doch nur daran, dass
wir unseren Messpunkt tatsächlich direkt an der viel befahrenen Straße
aufgestellt haben und nicht wie die in Karlsruhe direkt im Grünen.
Insgeheim grinst er darüber, weil er weiß, dass gerade in anderen europäischen
Blättern auch unsere Feinstaubwerte abgedruckt stehen und
deshalb die anderen nicht kommen. Recht so, die kennen die geheimen
Gesetze der Kehrwoche nicht und nehmen einem nur den Parkplatz
weg! Dass Stuttgart zu 30 Prozent aus Grünflächen besteht und in vielerlei
Punkten ein besseres Leben bietet als andere Städte, weiß er, das
muss ja auch gar nicht jeder wissen. Und da oben am Killesberg hat die
Luft eh Schwarzwald-Güte!
Er liest vom Koalitionsstreit der grün-schwarzen Regierung. Da
schüttelt er den Kopf, Streit kann er nicht haben. Gut, er hat auch mal
gestritten, damals, als er als Wutbürger gegen das Bauprojekt „Stuttgart
21“ mitdemonstriert hat. Aber das hat er auch nur gemacht, weil man
ja nie wissen kann. Mittlerweile freut er sich über die funktionierenden
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und denkt insgeheim, der neue
Bahnhof wird schon besser sein als der alte. Hauptsache, die anderen
in Deutschland zahlen kräftig mit. Bei der letzten Wahl hat er
Winfried Kretschmann gewählt. Die Chance, einen Grünen
zu wählen und so einen Schwarzen zu kriegen,
wollte er sich nicht nehmen lassen.
Im Immobilienteil registriert er
steigende Wohnungspreise und freut
sich, dass sein Häuschen schon längst
abbezahlt ist. Er rechnet sich kurz aus,
welche Wertsteigerung die letzten 20 Jahre mit sich
gebracht haben, und genießt das Wohlgefühl, das es in ihm auslöst.
Bevor er zu seinem Arbeitsplatz fährt, wo ihm 30 Prozent mehr bezahlt
wird als für dieselbe Tätigkeit zum Beispiel in Magdeburg, wirft er noch
einen Blick auf die Börsendaten. Wenn sein Vermögen gestiegen ist,
freut er sich wie ein kleiner Junge darüber. Ist es gesunken, tut er das
mit dem Wissen ab, dass er ohnehin nur Spielgeld auf der Börse hat und
dass das schon irgendwann mal wieder raufgeht. Dann checkt er noch
kurz seine Bitcoins. Er hat sich nämlich vier Stück der hochspekulativen
Kryptowährung gekauft, was aber seine Frau nicht wissen darf.
Er schlägt die Zeitung zu und macht sich auf den Weg. Heute ist
Freitag, gestern hat er zwei Überstunden gemacht, damit er heute schon
um 14:30 Uhr, vor dem großen Stau, Richtung Bodensee fahren kann.
Am schwäbischen Meer verbringt er in der Regel sein wohlverdientes
Wochenende. Den Sprudel nimmt er im Kofferraum aus Stuttgart
mit, damit er ihn „unten“ nicht teuer einkaufen muss. Wenn ihm ein
Bodenseeanrainer mit dem Vorwurf kommt, dass die Stuttgarter am
Wochenende den See zu stark bevölkern, sagt er versöhnlich: „Der
Bodensee g’hört uns doch älle!“
Bevor er losfährt, streichelt er unten in der Garage noch kurz über
den Kotflügel seines Panameras. Die Fahrt zum See unternimmt er
allerdings mit dem Golf seiner Frau. Der verbraucht weniger Sprit, und
stell dir vor, er trifft da unten
auf einen Magdeburger! Der
muss ja nicht unbedingt mitkriegen,
dass es ihm in jeder
Hinsicht um mindestens
30 Prozent besser
geht!
Christoph Sonntag ist Autor von zwölf Büchern. Der Satiriker und
Kabarettist lebt in Stuttgart-Bad Cannstatt. Der TV-Kabarett-Star
hat beim SWR eine eigene Sendung („Das jüngste Ger(i)ücht“),
und bei SWR3 hört man ihn mit seiner Glosse
„BLOSS KEIN TREND VERPENNT!“. Mit
seiner „Stiphtung Christoph Sonntag“
engagiert er sich in sozialen und ökologischen
Projekten (www.sonntag.tv)
BELLEVUE 5/2018 163
FOTO: Markus Palmer; ILLUSTRATION: Tobias Rieger
/(www.sonntag.tv)