Glosse: Hamburger Schwaben

BELLEVUE | eMagazine | 05/2013

GLOSSE I STUTTGART SPECIAL Hamburger Schwaben Wenn Kabarettist Christoph Sonntag über seine Heimatstadt spricht, blickt er gern auch über deren Tellerrand hinaus … Uns Stuttgartern wird oft zu Unrecht vorgeworfen, wir seien zu sehr auf unseren „Wilden Süden“ eingeschossen. Um diesem Vorurteil die Seebrise aus den Segeln zu nehmen, soll sich diese Stuttgart-Glosse mal um die Fischköpfe drehen, die jedes Jahr auf unserem Marktplatz ihren „Fischmarkt“ aufstellen und Brathering, Aal, Zander, Backfi sch und Scampi auf den Stuttgarter Karlsplatz bringen. Dieser Fischmarkt ist eine Austauschveranstaltung: Jedes Jahr bringen wir unser „Stuttgarter Weindorf“ nach Hamburg auf den Rathausmarkt. Das funktioniert mit sensationellem gegenseitigem Erfolg seit 26 Jahren. Warum? Weil sich das nicht Politiker überlegt haben, sondern richtige Menschen. Wir Stuttgarter freuen uns sakrisch über den Hamburger Fischmarkt, weil wir die Hamburger mögen. In erster Linie deshalb, weil sie keine Münchner sind. Die Hamburger hinterfragen uns nicht, sondern bringen uns mit ihrem Fisch einen funktionierenden Heiratsmarkt in die Stadt. Viele tragfähige Beziehungen hatten hier ihren Anfang: Ich hab vor Jahren mal einen schwäbischen Schweinezüchter auf dem Karlsplatz getroffen, der mir erzählte, dass er seine Lebenspartnerin gezielt auf dem Fischmarkt aussuche. Er sagte mir: „Wenn es ihr hier gefällt, dann steht sie’s auch später geruchlich durch, wenn ich abends nach der Arbeit verschwitzt aus dem Stall komme!“ Außerdem ist der Fischmarkt Vorbild: So mancher mittelständische schwäbische Unternehmer aus der Automobilzuliefererbranche steht mit glänzenden Augen und offenem Mund vor den genialen Marktschreiern Aale-Dieter, Käse-Tommi und Bananen-Fred und denkt: „Ja, leck mi doch, wenn i no au mol so en Verkäufer hätt ond zum Daimler schicke könnt, no däd der seine Querverspanndrosselschraube für der große Dieselmotor nemme en Polen, sondern bei mir kaufe!“ Noch mal entschwäbelt für Außerschwäbische, mit Untertitel: „Die hier präsentierte Marketingstrategie wür de ich gern für meine eigenen Akquise-Aktivitäten adaptieren!“ Aber auch die Hamburger mögen uns Schwaben, unsere Art und unsere Produkte: Ich kenne keinen Hamburger, der keinen Porsche oder Mercedes fährt. Hamburger beneiden uns um unser Klima, weil sie alles über 15 Grad für subtropisch und zwei Stunden Regenpause für anhaltende Dürre halten. Kurz: Hanseaten kommen einfach gern zu uns, um sich dieses schöne und vielseitige Geberland mal anzuschauen! Wir lernen voneinander durch diesen Kulturaustausch. So haben wir anhand der Elbphilharmonie wahrgenommen, dass man erst mal draufl osbauen kann und erst nachher die Kosten anschaut – und haben das direkt bei „Stuttgart 21“ eins zu eins umgesetzt. Redewendungen wie „in die Puschen kommen“ oder „Butter bei die Fische!“ sind bei uns in Stuttgart mittlerweile gang und gäbe. Und in Hamburg hört man inzwischen immer öfter, wenn ein großes Containerschiff im Hafen einschifft, nicht mehr „Schiff ahoi!“, sondern: „Hoi, a Schiff!“ Das Einzige, was uns noch trennt: Wir haben in Stuttgart einen grünen Oberbürgermeister, eine grüne Gemeinderatsmehrheit und eine grün-rote Landesregierung. Aber das frisst sich noch hoch bis Hamburch! Irgendwann wird eine neue grüne Mehrheit im Großen machen, was sie gerade im Kleinen in Stuttgart ausprobiert: Dort nimmt sie völlig überlasteten Straßen eine Fahrspur weg, um einen Radweg zu installieren, den wegen unserer bergigen Lage keine Sau benutzt, der aber ökologisch aussieht. Ein dadurch entstandener 1,50 Meter breiter Streifen wird nicht etwa bepfl anzt, sondern mit Schotter gefüllt, weil das „billiger“ sei. Das wird sicher kommen! Bundesweit! Dann wird auf der Autobahn von Stuttgart nach Hamburg die rechte Fahrspur zum Fahrradweg, und wir können unsere Kulturgüter mit der Radel-Rikscha austauschen. Aber so weit sind wir noch nicht. Noch können wir uns recht problemlos gegenseitig besuchen. Q CHRISTOPH SONNTAG ist Autor von zwölf Büchern, Satiriker und Kabarettist und lebt in Stuttgart/Bad Cannstatt. Bei SWR3 hört man ihn regelmäßig mit seiner Glosse „WISSEN SPEZIAL“. CHRISTOPH SONNTAG ist Bühnenkünstler, Buchautor und Radiostar FOTO: Christoph Sonntag Kabarett; ILLUSTRATION: T. Rieger BELLEVUE 5/2013 171


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